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Interview mit Lothar Hoffart

„Es ging drunter und drüber“, erinnert sich Lothar Hoffart. „Überall Menschen. Es herrschte ein schreckliches Geschiebe und ich hatte die Aufgabe, auf die Geschwister Acht zu geben.“ Katja und Nora sprachen am 30. Juni 2008 mit dem Zeitzeugen, der 1946 aus seiner Heimatstadt Bad Reinerz in Niederschlesien vertrieben wurde. Nach einem nicht einfachen Start in Westfalen lebt er heute mit seiner Frau in Münster.

Lothar Hoffart zeigt Katja und Nora eine Karte zur Vertreibung aus Schlesien (Foto: Ingrid Fisch) Herr Hoffart, vielen Dank, dass Sie sich Zeit für ein Gespräch genommen haben. Würden Sie uns erzählen, wo Sie geboren wurden?
Meine Heimat ist die Grafschaft Glatz in Niederschlesien, der Ort heißt Bad Reinerz. Die Eroberung Schlesiens durch die Rote Armee ist so verlaufen, dass der Gebirgsstreifen ausgespart und erst nach Kriegsende besetzt worden ist. Dazu gehörte die gesamte Grafschaft Glatz. Wir sind über das Kriegsende hinaus in der Heimat geblieben und dann vertrieben worden. Obwohl es bereits während der letzten Kriegstage hieß, wir müssten die Heimat verlassen – das war noch unter den Befehlshabern des Dritten Reiches. Da es kaum noch nicht besetztes Gebiet gab, wurde beschlossen, wir bleiben, wo wir sind.

Wussten Sie, wo es hingeht, als Sie sich zum Transport melden mussten?
Wir hatten von dem ersten Transport vier Tage zuvor gehört. Wir wussten aber nicht, wohin die Menschen gebracht wurden. Es war ja so, dass wir kein Radio hatten. Die wurden bereits im Sommer 1945 konfisziert. Das war eine der ersten Amtshandlungen der Polen. Auch Fahrräder, Fotoapparate und Elektrogeräte mussten abgegeben werden.

Wann haben Sie denn Bescheid erhalten?
Wir haben am Abend zuvor, also am 15. März 1946, Bescheid bekommen.

Wie ging es dann weiter?
Sammelpunkt war die Kreisstadt Glatz. Dort gab es eine Kaserne als Durchgangs- und Auffanglager. In diese Gebäude stopfte man mindestens eine Güterzugladung, das heißt mindestens 1.500 bis 1.600 Menschen.

Waren das die Schwalbetransporte, von denen man liest?
Ja, das waren die so genannten Schwalbetransporte. Nur diese Kodierung ist ja eine Erfindung der britischen Besatzungsmacht gewesen. So wurden sie dann im Schriftverkehr der Aufnahmezone genannt.

Wie verlief der Transport?
Im Lager mussten wir zwei Tage warten. Doch zunächst mussten wir dorthin kommen. Es war bitterkalt. Wir hatten an dem Morgen minus 10 Grad. Die Pfützen waren gefroren, das habe ich noch vor Augen. Dann ging es zu Fuß 22 Kilometer nach Glatz. Nur die gebrechlichen Leute und Frauen mit ganz kleinen Kindern durften auf die Fuhrwerke. Es waren chaotische Verhältnisse. Ich bin mit meinen jüngeren Geschwistern die ganze Strecke gelaufen. Mutter hatte mir aufgetragen dafür zu sorgen, dass sie nicht irgendwo sitzen bleiben. Dass sie nicht im Gewühl untergehen. Das war meine Aufgabe.

Waren Sie denn der Älteste?
Nein, ich war der Zweitälteste. Mein größerer Bruder hat mit meiner Mutter das Gepäck bewacht. Wir hatten nur Rucksäcke geschultert. Wir persönlich hatten den ganz großen Vorteil: Unser Hauswirt, der Spediteur, musste für diesen Transport zwei Fuhrwerke stellen, und er hat uns angeboten, gleich im Hof unsere Sachen darauf zu deponieren.

Und wie haben Sie die Ankunft im Sammellager erlebt?
Es wurde schon dunkel. Ein unbeschreibliches Chaos. Wir mussten zunächst im Hof verharren. Irgendwann kam unsere Mutter und nannte uns einen Raum. Ich finde ihn heute noch wieder. Der erste Raum im Erdgeschoss, Hochparterre, links neben dem Eingang. In dem Gebäude ist heute eine Schule untergebracht. Äußerlich ist das Gebäude unverändert.

Gab es denn viele Menschen, die diesem Stress, dieser Ungewissheit nicht gewachsen waren?
Es hat in diesem Sammellager etliche Suizide gegeben. Ich weiß nur, dass auf den Gängen morgens etliche Tote lagen, die man aus den Zimmern geschleppt hatte, was ich selber gesehen habe. Jeden Morgen etwa ein halbes Dutzend. Dass es sich um Suizide gehandelt hat, weiß ich vom Hörensagen. Die hatten sich etwa auf dem Dachboden erhängt. Es gab aber auch Todesfälle durch Herzversagen. Es war ja bitterkalt.

Wann ging es in die Züge?
Am zweiten Tag hieß es dann: „Es geht zum Güterbahnhof.“ Wir mussten uns auf dem Hof sammeln. Das ganze Gelände war bewacht. In dieses Bereitstellen platzten neue Transporte. Es ging drunter und drüber. Es waren nur noch Menschen da. Es herrschte ein schreckliches Geschiebe und Geknubbel. Und da hatte ich wieder die Aufgabe, auf die Geschwister Acht zu geben. Meine jüngste Schwester war damals fünf Jahre alt, die andere acht Jahre.

Wie war es im Zug?
Per 30 Personen wurde ein Güterwaggon gefüllt. Es konnte sein, wenn noch Familienangehörige hinzukamen, dass es 35 Personen waren. Man hatte damals zwei Standardgrößen, in die größeren Waggons kamen mindestens 40 Menschen. Da war nichts drin. Holzboden, Holzwände und eine Schiebetür. Das war am Spätnachmittag des 18. März 1946.

Der Flüchtlingsausweis von Lothar Hoffart (Quelle: privat) Und dann?
Es war schon Abend, als der Zug sich in Bewegung setzte. Da war keine Toilette drin. Bei uns, also in unserem Güterwagen, war es so: Es dauert nicht lange, da musste derjenige mit dem größten Kochgeschirr, dieses herausgeben. Nachts hielt der Zug hier und da auf offener Strecke. Das erste Mal wirklich angehalten hat der Zug in Liegnitz auf dem Güterbahnhof. Das war am Morgen des folgenden Tages.
Organisieren konnte ich damals schon gut. Mit zwölfeinhalb Jahren. Das Wichtigste, was wir brauchten, um nicht völlig zu erfrieren, war ein Ofen. Die Innenwand des Wagens war fingerdick vereist. Mit mehreren Jungs sind wir los und haben ein Stück Rohr und einen Ofen gefunden und ein bisschen Kohle von der Lokomotive geholt. Wir bekamen auch ein bisschen Wasser mit dem Rat: „Kocht das Wasser ab!“

Und wie haben Sie sich ernährt?
Irgendjemand hat aus seinem Nahrungsbestand ungekochte Kartoffeln herausgerückt. Dann wurde Wasser abgekocht. Es waren ja auch Kleinkinder dabei. Nach zwei Stunden ging es weiter. Am Abend war der Zug dann beim Übergang Kohlfurt. Das war der letzte Bahnhof vor der Oder-Neiße-Grenze. Dort wurden wir mit DDT entlaust. Die Prozedur wurde ganz streng bewacht. Von dort ging es am späten Abend in die sowjetische Besatzungszone.

Ab wann war denn klar, wohin es ungefähr geht?
Wir wussten nach der ersten Nacht, es geht Richtung Westen. Gut, dass Ihr danach fragt! Wir hatten ja Angst, dass sie uns nach Sibirien bringen und uns den Russen übergeben. Und als es gerade grau wurde, bin ich über Gepäckstapel auf die Luftluke geklettert. Die sind zwar vergittert, doch man kann etwas sehen. Soviel war klar: Wir fuhren von der aufgehenden Sonne weg. In die entgegen gesetzte Richtung. Es herrschte zuvor ein unruhiges Gemurmel. Das hat zur Beruhigung beigetragen.

War das Gefühl besser, sobald Sie in der britischen Zone waren?
In Marienthal liefen schon Werber herum, die bestimmte Bau- bzw. Metallarbeiter angeworben haben. Das war ein Tagebaugebiet für Braunkohle. Und Kohle war die einzige Energie, die wir hatten. Und alles was mit der Kohlegewinnung zu tun hatte, hatte natürlich erste Priorität. Aus unserer Nachbarschaft ist eine Familie dort geblieben. Der Mann war Schlossermeister und nicht in Kriegsgefangenschaft. „Ihr bekommt sofort eine Arbeit und eine Wohnung“, wurde gelockt. Für jemanden, der vollkommen entwurzelt ist und der überhaupt keine Ahnung hatte, wo dieser Transport endet, hört sich das gut an. Wir wussten nur, unser nächstes Ziel ist ein Durchgangslager bei Nienburg an der Weser.

Herr Hoffart, wir danken Ihnen sehr für dieses ausführliche Gespräch!

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