Der Autor stellt Ursachen, Formen und Funktionen des adligen Stadtaufenthaltes im Zeitraum 1600 bis 1760 dar und beleuchtet ihn aus verschiedenen Perspektiven: aus der Sozial- und Kulturgeschichte ebenso wie aus der Verfassungs- und Rechtsgeschichte und der Land- und Stadtgeschichte. "Ein gleichermaßen innovatives und grundlegendes Werk für die Geschichte der Stadt Münster", urteilte tadtarchivdirektor Prof. Dr. Franz-Josef Jakobi bei der Buchvorstellung vor der Presse (5. Mai). Erstmals werde die intensive Verbindung des Adels mit der Hauptstadt des Fürstbistums in vollem Umfang sichtbar gemacht. Diese Sozialgeschichte des Landadels in einer Stadt mit Residenzcharakter bereichere in vielfacher Hinsicht den bisherigen Kenntnis- und Forschungsstand.
Bis in die 1990er Jahre hinein wurde das Verhältnis von Adel und Stadt in der historischen Forschung vernachlässigt. Es galt die stereotype Auffassung der Historiker des 19. Jahrhunderts von der scharfen Trennung der feudal-ländlichen von der stadtbürgerlich-freiheitlichen Lebensweise. "Tatsächlich aber waren beide ,Lebenswelten' schon im Mittelalter eng miteinander verflochten, wenngleich sich auch eine Intensivierung erst im 16. Jahrhundert - dem Beginn des Untersuchungszeitraums - ergab", erläutert Dr. Marcus Weidner.
Neue Macht- und Kulturzentren: Verwaltung und Fürstenhof
Jetzt entstehen Territorialstaaten mit dem Aufbau einer zentralen landesherrlichen Behördenorganisation. An das Umherreisen von Verwaltung im Gefolge des Fürstbischofs war nicht mehr zu denken - sie erforderte Ortsfestigkeit. Intensivierung und Ausweitung von Herrschaft führte dazu, dass seit dem 17. Jahrhundert etwa fürstliche Residenzen mit Behörden in Horstmar und Coesfeld oder Landständeversammlungen auf dem Laerbrock nahe Nottuln in die Stadt verlagert wurden. Diese neuen Zentren konnte der Adel als Elite nicht ignorieren.
Marcus Weidner untersucht auf der Grundlage einer reichhaltigen Quellenüberlieferung die Entwicklungen, die zu einer schrittweisen Verzahnung der ländlichen und der städtischen ‘Lebenswelten’ führte: die sozio-kulturelle Entwicklung vom adligen Landjunker zum Kavalier, die Herausbildung des frühneuzeitlichen Territorialstaats und des Fürstenhofs (Zentralverwaltung, Fürstenresidenz), die Ausformung der Landstände und die verfassungsrechliche Entwicklung der Stadt Münster. Eine wichtige Grundlage bildete die Kultur der adligen bzw. höfischen Repräsentation, die von Frankreich und Italien aus in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts eine enorme Ausstrahlungskraft auf das übrige Europa entfaltete.
Die Fremden in der Stadt
"Die Fremden in der Stadt" - den Folgen aus der Anwesenheit für Stadt und Adel widmet sich die Veröffentlichung in ihrem zweiten Teil. In welcher Form organisiert der Adel seinen - saisonal befristeten - Aufenthalt in der Stadt? In welchem Maß gelingt es ihm, seine angestammten Freiheitsrechte im Stadtraum zu behaupten? Und wie reagiert die Stadt auf den Aufenthalt? Marcus Weidner zeichnet das Aufeinandertreffen der beiden Lebenwelten nach - in Fragen der Steuerzahlung ebenso wie in den verschiedenen Gerichts- und Aufsichtsrechten. Von zentraler Bedeutung sind darüber hinaus die rasch zunehmende Verfügung des Adels über Immobilien in der Stadt, die bauliche Repräsentation des Adels - es entstehen die herrschaftlichen Höfe an Königstraße, Salzstraße, Neubrückenstraße und Aegidiistraße - und die Formen und Ausprägungen adligen Wohnens in der Stadt. Adel behauptet seine Exklusivität
"Der Adel war auf dem Hintergrund der ständischen Gesellschaftsverfassung nicht bereit, während der Stadtresidenz seine soziale Exklusivität aufzugeben, sondern diese - abgestuft nach Status und Vermögen - durch repräsentative Bauten und die strikte Absonderung vom Stadtbürgertum zu konservieren", so Marcus Weidner. Ob Freistellung von Abgaben, Gestus, Sprache oder Kleider, Kutschen mit Wappen oder Orden - der Adel nutzte die trennenden Symbole und behauptete seinen privilegierten Stand.
Freilich zeigt sich auch, dass der Adel unter den Bedingungen eines zunehmenden sozialen und repräsentativen Wettbewerbs innerhalb seines Standes auf Kredite, Konsumwaren und das Know-how von - nicht-adligen - Handwerkern, Kaufleuten und Künstlern vor allem aus dem Umkreis der Städte angewiesen war. So gestaltete sich der Aufenthalt zahlreicher Adliger für die Stadt nicht grundlegend verlustträchtig (Steuerausfall), sondern schloss auch Chancen ein. Vom Prestige-Konsum etwa profitierten vor allem Handwerker, Dienstleister, Architekten und auch Künstler wie der Portraitmaler Rincklage. Und nicht zuletzt waren es wohlhabende Bürger, die dem Adel zu seinen Krediten verhalfen.
Inventarwerk adliger Stadthöfe
Beide Teile der durch ein Graduierten-Stipendium geförderten Dissertation gründen gleichermaßen auf den im Anhang (Band 2) abgedruckten ausführlichen topographischen und prosopographischen Materialien, d.h., auf einem Inventarwerk der adligen Stadthöfe in Münster und einer prosopographischen Dokumentation zu rund adligen 240 Personen des 17./18. Jahrhunderts, die über Stadthäuser verfügten. Durch diese vergleichende Gegenüberstellung beider Sammlungen, die in Methodik und Umfang bisher noch für kein anderes Gebiet Deutschlands vorliegt, konnte der Autor wichtige Aufschlüsse über die facettenreichen Ursachen des Aufenthalts wie auch zum Leben des Landadels in der Stadt gewinnen.
Marcus Weidner, Jahrgang 1964, zurzeit Wissenschaftlicher Volontär am Historischen Museum Bremerhaven, studierte Neuere und Mittlere Geschichte sowie Klassische Archäologie in Münster. Er veröffentlichte zur westfälischen Stadt- und Landesgeschichte und erhält für seine Arbeiten im August 2000 den Fürstin-von-Gallitzin-Preis.
Marcus Weidner: Landadel in Münster 1600 - 1760. Stadtverfassung, Standesbehauptung und Fürstenhof. Quellen und Forschungen zur Geschichte der Stadt Münster, herausgegeben vom Stadtarchiv Münster. Band 18.1 und 18.2. Aschendorffsche Verlagsbuchhandlung Münster, 2000. 158 Mark. ISBN: 3 - 402 - 06641 - 6