Den wohl weitesten Weg nach Münster tritt Dorothea Grünzweig an. "Mir ist der Winter eingegeben" und "wer weiß seit / wann ich dieses Winterinland habe", dichtet die 1952 in Süddeutschland geborene Autorin mit Blick auf ihre Wahlheimat Finnland. Kunstvoll bringt sie in die deutschsprachige Gegenwartslyrik das "Eisgebreit" ein, die Natur, die Mythen, die Lebensformen und Einsamkeiten, die ganze Bildwelt des Nordens. Urvertraut mit der Welt, Westeuropa und Deutschland kritisch zugewandt, der Sprache der Poesie vertrauend, gestaltet Grünzweig die uralten Themen des Gedichtes neu.
Nicht der Schnee, sondern die Luft ist das Element des lyrischen Ich von Matthias Göritz, dessen erster Gedichtband den programmatischen Titel "Loops" trägt. Loops, das sind die Umdrehungen, die der 1969 geborene Lyriker in seinen Gedichten, "kleineren Liedern / ohne die große Empfindung", beschreibt und vollzieht. Mitten im großstädtischen Lebensumfeld und Alltag begibt sich das melancholische, unsichere Ich in einen poetischen Wirbel, der es "heraus aus all dem Profanen" hebt: "sich umdrehn / // und schnell / hinaus / kreisen, hinaus // bis zur nächsten Laterne, / und hinter der Nacht bleiben. / Ferne. Noch immer die Sterne."
Sie "himmelt ihn an", "ich bin Feuer und Flamme für dich" und "Luft für ihn" - Sprachmetaphern wie diesen spürt der Österreicher Franz Josef Czernin (Jahrgang 1952) in seinem Buch "elemente, sonette" nach. Obwohl die antike Elemententheorie heute längst außer Kraft ist, sind die mythischen Urprinzipien der Welt - Feuer, Wasser, Luft und Erde - noch wirksam: in den verfestigten Bildern und Wendungen der Sprache. Ihre "toten" Elemente-Metaphern gebraucht Czernin als Material für syntaktische und semantische Konstruktionen, die das Überwältigtwerden durch Elementares und die Sprache selbst neu zur Sprache kommen lassen.
Ein Weltgedicht legt Paulus Böhmer mit seinem, in über zwanzig Jahren entstandenen, opus magnum "Kaddish I – X" vor. Der 1936 geborene Dichter bringt in zehn Langgedichten eine Wort- und Satzflut zum Überquellen, die die individuelle Lebens- und Denkerfahrung in den Kollektiverfahrungen der Natur, der Geschichte und Zivilisation auflöst und das Leben in all seiner Widersprüchlichkeit und Unzähmbarkeit erscheinen lässt. Seine eigenen wie alle Toten und alles Tote will Böhmer aus dem "Weissen Rauschen der Sprache" holen, in der Erinnerung halten. Kaddish ist Klage und Hymnus auf das Leben zugleich. In den Versen sind Ekstase und Exzess, Geburt und Tod, Verbrechen und Liebe, Persönlichstes und Weltgeschichte lebendig aufgehoben.
Lesung mit Matthias Göritz, Dorothea Grünzweig, Paulus Böhmer, Michael Stauffer, Franz Josef Czernin, Uwe Tellkamp am 15. Mai um 20 Uhr im Kleinen Haus der Städtischen Bühnen; Moderation Cornelia Jentzsch; Karten Theaterkasse, Telefon 02 51 - 41 467 - 100.