"Mit dieser Publikation wird ein bedeutendes Projekt zur Geschichte der Stadt zum Abschluss gebracht", betonte Kulturdezernentin Helga Boldt. Mehr als zehn Jahre habe das Stadtarchiv in die Erforschung der Stiftungsgeschichte Münsters vom Mittelalter bis in die moderne Zeit investiert.
Herausgeber der "Studien zur Geschichte der Armenfürsorge und der Sozialpolitik in Münster" sind Prof. Dr. Franz-Josef Jakobi, Dr. Hannes Lambacher und Dr. Ralf Klötzer. "Die Untersuchungen beziehen sich auf die Bedingungen und Strukturen von Stiftungen, Armut und Armenfürsorge in Münster über mehr als sechs Jahrhunderte", erläuterte Stadtarchivdirektor Jakobi. "Einen solch umfassenden Überblick über die Stiftungswirklichkeiten ermöglicht und damit wichtige Beiträge zur Sozialgeschichte der Stadt geleistet zu haben, ist der besondere Wert dieses Projektes". Zahlreiche Historikerinnen und Historiker hätten über viele Jahre Forschungen und Untersuchungen in die Publikationen investiert, so der Leiter des Stadtarchivs im Rückblick.
Stiftungen können ganze Epochen und Kulturen überdauern. Obgleich aufgrund von rechtlicher Sanktionierung weitgehend gegen Veränderungen gefeit, sind sie keineswegs statische Gebilde. So nimmt der neue Forschungsband diese Veränderungen von Stiftungen in den Blick. Das Spektrum reicht von kleineren Wandlungsprozessen bis hin zu den tief greifenden Reformen des 19. Jahrhunderts. In deren Folge wurde die Armenfürsorge und das Stiftungswesen auch in Münster zentral und unter staatlicher Aufsicht neu organisiert.
Den politischen Rahmenbedingungen für den Umgang mit Armut und Armenfürsorge in der frühen Neuzeit gehen Alwin Hanschmidt und Hannes Lambacher nach. Alwin Hanschmidt stellt in seinem Beitrag - auf der Basis von Ratsprotokollen - die in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts immer wieder erneuerten Bemühungen des Rates dar, in eigener Regie und unter Abwehr ähnlicher Bestrebungen des Landesherrn eine stadtweite zentrale Organisation der Armenfürsorge durchzusetzen. "Stiftungen zwischen Ratsautonomie und Landesherrschaft" heißt der Aufsatz von Hannes Lambacher, der diese Problematik dann für das 18. Jahrhundert analysiert. Hier im Mittelpunkt: Zwei interessante von der Stadt Münster eingeholte Rechtsgutachten der Universitäten Ingolstadt und Prag. Mit ihnen wollte die Stadt Bemühungen des Landesherrn verhindern, die Stiftungen und Armenfürsorge der Stadt von der staatlichen Ebene aus zu zentralisieren.
Die mittelalterliche Ausgangslage, der im ersten Forschungsband der Reihe mehrere Studien zu einzelnen Stiftungen gewidmet waren, thematisiert der Beitrag von Karl-Heinz Kirchhoff. Er forscht über das Marienhospital und die Antoniuskapelle vor dem Mauritztor und deren Stellenwert in der Reform der Armenhäuser nach der Pestepidemie von 1349/50.
Vier weitere Untersuchungen sind der fundamental veränderten Situation im 19. Jahrhundert gewidmet. Es geht dabei um einzelne Aspekte von Armut und Armenfürsorge. Thematisiert wird auch das Zusammenwirken staatlicher und privater Initiativen zu ihrer Bekämpfung unter Instrumentalisierung der älteren Stiftungsgüter.
Einen geschlechtergeschichtlichen Ansatz für die statistische Auswertung entsprechender Überlieferungen des Magdalenenhospitals beziehungsweise der Armenkommission haben Silvia Dethlefs ("Frauengeschichte – Geschlechtergeschichte") und Elke Glöe ("Frauenarmut in Münster im 19. Jahrhundert") für ihre Beiträge gewählt. Eine Langzeitanalyse der Überlieferungen des Clemenshospitals unter wirtschafts- und institutionsgeschichtlichen Gesichtspunkten bietet die Studie von Willi Langefeld und Reinhard Spree. Thomas Kortmann schließlich greift den Übergang von der stark auf die Laiencaritas abgestellten Armenfürsorge zur staatlich organisierten Sozialpolitik auf und konzentriert sich dabei - mit interessanten neuen Einsichten - auf Entstehung, Zweckbestimmung und Selbstverständnis der speziellen Vereinscaritas durch den in Münster seit 1849 bestehenden Vinzenzverein.
Zur Geschichte sozialer Stiftungen gehört - darauf hat besonders Ralf Klötzer das Augenmerk gerichtet - auch ihr Ende. "Für ewige Zeiten?" - unter dieser Fragestellung geht der Historiker der Zusammenlegung und Auflösung sozialer Stiftungen in Münster nach. In einem sehr langsamen Prozess entwickelte sich die Fürsorge zur Aufgabe des entstehenden modernen Staates. Erst als die Stadt schließlich auf Dauer unter preußische Verwaltung kam, wurde die Zentralisierung des Fürsorgewesens konsequent betrieben. Entsprechende Finanzmittel wurden der Armenkommission übertragen - einer staatlichen Behörde, in der mehr und mehr kommunale Kräfte zum Einsatz kamen. 1848 konnte sie der Stadtverwaltung angliedert werden.
"Strukturwandel der Armenfürsorge und der Stiftungswirklichkeiten in Münster im Laufe der Jahrhunderte". Band 4 in der Reihe "Studien zur Geschichte der Armenfürsorge und der Sozialpolitik in Münster". Herausgeber Franz-Josef Jakobi, Hannes Lambacher, Ralf Klötzer. Aschendorff-Verlag, Münster, 2002 (55 Euro).