Einen Nord-Süd-Vergleich ermöglicht das Lyrikertreffen Münster vom 3. bis 6. Mai mit Autorinnen und Autoren aus Flandern, Italien und dem deutschen Sprachraum. Der große Gegensatz, der sich im literarischen Europa zeigt, scheint sich traditionell auch im Charakter der zwei niederländischsprachigen Literaturen zu spiegeln. So wird die südniederländische Poesie in der vom flämischen PEN-Club herausgegebenen Anthologie "Noordzuid/Nordsüd" mit "südlichen" Begriffen wie Ausdruck und Bekenntnis, Emotionalität, starke Bildlichkeit und sprachlicher Reichtum gekennzeichnet. Für das Nordniederländische seien dagegen Schlichtheit, Distanz und Intellektualität, Konstruktion und Klarheit bestimmend. Ob die angeführte Klassifizierung noch heute gilt, lässt sich nicht nur am Beispiel von Hugo Claus überprüfen, der beim Lyrikertreffen den Preis der Stadt Münster für Europäische Poesie erhält, sondern auch in den Lesungen von dreien seiner jüngeren Kollegen.
Mit der italienischen Überlieferung setzt sich der 1951 geborene Stefan Hertmans direkt auseinander. "Francesco's Paradox" ist ein 14-teiliger Gedichtzyklus auf die Sonette von Petrarca, den der Brüsseler Komponist Walter Hus vertonte und der in Münster auch musikalisch zur Aufführung kommt. Hertmans' Dichtung kennzeichnet, wie der Lyriker und Literaturwissenschaftler selbst reflektiert, das Bestreben, gegen das alltägliche, entfremdete Sprechen "ständig Grenzen zu überschreiten auf der Suche nach einer auratischen Ferne".
Sein Gedicht will die Welt nicht begreifen, sondern nur indirekt ansprechen, weil sie darin wirklicher und gegenwärtiger ist als im gewöhnlichen Benennen. Ihn treibe, so Hertmans, der alte Traum, "dass die Dichter Poesie schreiben, um die Welt etwas über sich selbst sagen zu lassen", und die Einsicht: "Hüte dich vor dem was du kennst. / Alte Harmonien, vergessene Sicherheiten. / Ein Mann rennt ungehindert über Grenzübergänge / auf der Suche nach Schnee und Gedichten".
Dass auch die dichterische Sprache die Lebewesen nicht in ihrer Wirklichkeit darstellt, ist eine Grundüberzeugung des 1960 geborenen Dirk van Bastelaere. Seine Gedichte, die ein melancholischer Grundton trägt, rufen die unerforschte, sprachlose Welt als Raum der Ganzheit, Echtheit und Lebendigkeit hervor, wo das "Herz" der Wesen noch zu finden ist. Die Benennung dagegen zerstört ihre Einheit und ihren Sinn. Auch das Ich ist nicht wirklich es selbst und lebendig, auch im Gedicht findet es sich nicht. So wird etwa die Berliner Mauer Metapher für die unüberwindbare "Trennlinie // Zu dem, was wir wirklich sind. / Es ist die geduldige Kehrseite / Der Zeit. Dort wächst nicht / Was du vergisst, sondern was fehlt // Bevor du es merkst."
Die trotzig-radikale Aufforderung: "Also lies mich. Lies mich ganz oder lies mich gar nicht" richtet Leonard Nolens, 1947 geboren, an die Geliebte wie auch an die Leserinnen und Leser seiner Gedichte. Lyrik ist leidenschaftlicher, existenzieller Ich-Ausdruck "mit Saft und Stachel", ein immer problematischer Weg aus der Einsamkeit, die Suche nach dem Du, in dem sich das Ich zugleich verliert und es selbst bleibt. "Erzähl mir", bemerkt Nolens schon in frühen Versen programmatisch, "nichts von dem ordentlichen Gedicht / Aus dem du verschwunden bist - / zeig' mir nur ein einziges Mal ein erschütterndes Gedicht / In dem du verschwunden bist wie ein Mann, verkrampft / In seine Liebste. In eine andere Person. In ein anderes Selbst."
Leonard Nolens und Dirk van Bastelaere lesen am Donnerstag, 3. Mai, Stefan Hertmans am Freitag, 4. Mai, und Hugo Claus am Samstag, 5. Mai, jeweils um 20 Uhr. "Francesco's Paradox" von Stefan Hertmans wird am Samstag um 17 Uhr mit dem Komponisten Walter Hus am Flügel und dem Tenor Peter de Groot erstmals in Deutschland aufgeführt. Alle Veranstaltungen finden im Kleinen Haus der Städtischen Bühnen statt (www.lyrikertreffen.muenster.de; Karten: Theaterkasse der Städtischen Bühnen Münster, Neubrückenstraße 63, Tel. 02 51 / 59 09-100).