Maria Luisa Spaziani, geboren 1924, gilt als die große alte Dame der italienischen Lyrik. Differenzierte Selbstbeobachtung und eine intensive Nähe auch zur äußeren Realität zeichnen ihre Gedichte aus. Darin wendet sie sich jedoch nicht der Alltagssprache zu, sondern bringt die persönliche Erfahrung in formvollendeter, am italienischen Hermetismus geschulter Eleganz, auf dem höchsten sprachlichen Niveau und zugleich federleicht zum Ausdruck: "Ein vereinzeltes Wort (ein jedes Wort vielleicht) / ist ein Brunnen ohne Grund, die Schatzhöhle."
Provokant und in der italienischen Öffentlichkeit umstritten ist die 1953 geborene Mailänder Lyrikerin Patrizia Valduga. Ungeschminkt benennen und beschwören ihre Gedichte das Widerspiel von Eros und Thanatos, von Leben und Tod. Gegen ihre Gewalt, die das Subjekt zerreißt, behauptet sich das lyrische Ich mit der traditionellen, geschlossenen Form, durch Strophe, Versmaß und Reim: "Erde zu Erde, komm über mich / sollst Pflug in meiner Erde werden, / noch im Vergehen blühn will ich, / dir aufgehn, mein Himmel auf Erden."
Die Metropole Mailand und ihre Randfiguren geben den Gedichten des 1945 geborenen Maurizio Cucchi Gehalt, Form und Perspektive. Hohe formale Reflexion kennzeichnet seine freien Verse, die bedeutsame Situationen des Alltags und prekäre Zustände des Ich präzise benennen, lakonisch ausleuchten und zum allgemeinen Beispiel oder zum Gleichnis überhöhen: "Der Stadtreisende / streift müßig durch die Straßen in der Arbeitszeit. / Einen Augenblick streichelt er die Häuserwände, / betrachtet Balkone, Verrostetes und zwängt sich / zwischen Portierlogen und Abstellräumen durch. / Er hält sich für gleichgültig, fremd, / doch manchmal packt ihn die Erinnerung, / verstört ihn ein ausgegrabenes Gefühl. / Doch dann ist da immer, in einem obersten Stockwerk, / ein Mädchen, das unruhig die Gardine zur Seite schiebt."
Milo de Angelis, 1951 geboren, sucht in großer metaphorischer Verdichtung, freiem Vers und mit hoher Musikalität das Mysterium des Lebens und des Du: "Nicht nach Wasser dürstete mich, nach Durst. Den / Schwindelanfall der Fliesen starrte ich an. Ich forderte / ein unverständlicheres Leben." Seine Gedichte sind Beschwörungen, sie begreifen nicht oberflächlich, sondern setzen die Welt, der Liebe vergleichbar, in einen Zustand des Geheimnisses und vibrierender Präsenz: "Nachmittag und die Spiegelungen / auf den Restauranttischen erklären sich nicht / in der Nähe der roten Fingernägel, / fallen ein in die Sätze / dies ist Liebkosung // die vergisst, sich widmet, / im Tässchen die letzten Tropfen / sieht und an die Zeit denkt, / an das einzige Wort für Liebe: jetzt."
Den literaturhistorischen Horizont der zeitgenössischen italienischen Dichtung beleuchtet der deutsche Verleger und Übersetzer Michael von Killisch-Horn in seinem Vortrag über einen der bedeutendsten Dichter des 20. Jahrhunderts, Giuseppe Ungaretti. Ungaretti gilt als Begründer der lyrischen Moderne und zugleich als avantgardistischer Hermetiker und traditionsbewusster Klassiker. Mit den knappen Gedichten, die in den Schützengräben des Ersten Weltkriegs entstanden, revolutionierte er die italienische Lyrik. Ungaretti fordert die Einheit von Leben und Dichtung, die Verwurzelung eines jeden Textes in der Autobiographie des Dichters, in der das Allgemeine Ausdruck findet. Michael von Killisch-Horn ist Übersetzer und Mitherausgeber der deutschen Ungaretti-Ausgabe.
Milo de Angelis, Patrizia Valduga und Maurizio Cucchi lesen am Freitag, den 4. Mai um 20 Uhr, Maria Luisa Spaziani am Samstag, den 5. Mai um 20 Uhr im Kleinen Haus der Städtischen Bühnen Münster. Michael von Killisch-Horn führt in Ungaretti am 4. Mai um 17 Uhr im Kleinen Haus ein. Karten für alle Veranstaltungen gibt es im Vorverkauf an der Theaterkasse der Städtischen Bühnen Münster, Neubrückenstraße 63, Tel. 02 51 / 59 09-100.