In Deutschland ist Tomas Lieske (Jahrgang 1943) bisher nur als Erzähler in Erscheinung getreten. Aber kaum eine Seite des unter dem Titel „Franklin“ erschienenen Romans (2000; dt. 2004) lässt den Leser daran zweifeln, dass hier ein zugleich bildmächtiger und disziplinierter Expressionist am Werk ist, ein Mythologe, dem das Raunen fremd ist. Es verdient Bewunderung, wie Lieske die Befremdlichkeit seiner Visionen, die Düsternis seiner animalischen Träume durch eine exakte und „niederländisch“ konkrete Sprache nicht einfach nur abbildet, sondern zu intensivieren weiß.
Eigensinnige Assoziationen werden so plausibel wie Erinnerungen: „Mit all ihrem Kristall und Eis und Prismenpracht / wartet die Karaffe. Die Gracht mit weißen Flecken / und herausgeätzten Resten durchkreuzt die Straßen / meiner Jugend. Wie ein Reklamefetzen / dümpelt der Kalender meines Lebens, / die Termine verblassen, die Nummern, die Namen.“
Das lyrische, ebenso wie das erzählerische Werk von Anne Duden, macht keine Kompromisse. Die Juroren des Heinrich-Böll-Preises, der vor zwei Jahren an die heute 63-jährige verliehen worden ist, haben sich beeindruckt gezeigt, von dem „Mut zum radikalen Entwurf einer Autorschaft, die sich den Eigenbewegungen des Schreibens vorbehaltlos anvertraut“. Aber noch in ihrer Verschlossenheit, selbst und gerade in ihren erratischen Wortneubildungen laden die Gedichte den Leser dazu ein, sich seiner eigenen „Fremdsprache“ anzuvertrauen - in einer Zeit, wo das „ich versteh“ zu einer zerstreuten Floskel geworden ist.
Anne Duden ist eine Meisterin der Bildgedichte. Auf eine ganz radikale Weise macht sie das Wort „Einbildung“ konkret, etwa wenn sie das Totenbildnis von Kaiser Maximilian I. betrachtet - oder vielmehr sich ihm anverwandelt: “Die rote Totenhaube des Herrschers mein Käppchen / ich will dich nicht / Innsbruck / ich muß dich lassen.“
Der vor zwei Jahren anlässlich des 70. Geburtstages von Wulf Kirsten erschienene Band „erdlebenbilder“ umfasst beinahe 400 Seiten. Es sind Gedichte aus fünf Jahrzehnten. Es hat den Anschein, als ob Wulf Kirsten - der nach eigenem Bekunden zum Lyriker geworden ist durch die Begegnung mit der Prosa Johannes Bobrowskis - sich mit seinen Naturgedichten treu geblieben wäre.
Wer jetzt eine Längsschnittlektüre unternimmt, ist verblüfft darüber, wie selbstverständlich die Natur nie nur wiedererkennbarer Gegenstand, sondern immer auch das zu entziffernde Prinzip ihrer Sprache gewesen ist, Topographie und Orthographie scheinen einander auszulegen: „nun lies / und sieh, wie sich die grundschrift / verformte unter der lichtwolke, / jede klinge ausgegrünt maiwüchsig / pfingstlich, als ob dies noch immer / in der natur der sache läge, langhin / deutungslinien über die verkleinerte welt gezogen, die sich in dunstschleiern / verliert, kirchtürme von der sonne / ins meißnische land gestaucht / erinnerungspunkte“.
Jan Wagner, geboren 1971, gehört zu den jüngsten Autoren des Lyrikertreffens 2005. Er ist Mitherausgeber der Anthologie „Lyrik von jetzt“, und er hat englischsprachige Gedichte übersetzt. Im Vorjahr veröffentlichte Wagner unter dem Titel „Guerickes Sperling“ seinen zweiten Gedichtband - nach dem vielgelobten Debüt „Probebohrung im Himmel“. Jan Wagner ist ein belesener Autor, aber seine intelligenten Gedichte sind frei von jeglicher Gedankensblässe. Beherzt „schreiten“ sie durch alle nur denkbaren Formen.
In seinem neuen Gedichtband finden sich Haikus, und es gibt einen kunstvollen Sonettenkranz (das fünfzehnte Sonett ist aus den Anfangszeilen der ihm vorausgegangen vierzehn Sonette gemacht). In heiterer Virtuosität gewinnt Jan Wagner noch einer erwachenden Kleinstadt schön Elegisches ab: „und in den lieferwagen pendelten / die schweinehälften zwischen ja und nein, / den linden wuchsen herzen. Und es passte // nicht mehr als ein blatt papier zwischen mich und die welt. / und in den gärten, hinter allen hecken / verkündeten die rasenmäher den mai.“
Auch der 1936 in Mittelschweden geborene Lars Gustafsson ist kein „reiner“ Lyriker. Seit vier Jahrzehnten ist er in Deutschland als Poet, Essayist und „Novellist“ präsent. Die verschiedenen Gattungen, in denen er sich betätigt, sind unterschiedliche Aggregatzustände eines Schreibens, das wissen will, was die Welt im Innersten zusammenhält oder aus dem Innersten herausbrechen lässt. Seine Gedichte lassen sich lesen als Abbreviaturen seiner autobiographischen Romane und seiner philosophischen Gedankenspiele. Immer wieder tritt an die Stelle einer epischen oder logischen Integration die erotische Inventarisierung von Einzelheiten und Rätselhaftigkeiten. Vor Jahren hat er einmal einen Essay über die Zeit eingeleitet mit Bemerkungen zur astronomischen Uhr im Dom zu Münster; in seinem neuen Gedichtband - „Auszug aus Xanadu“ (2003) - zieht ein Gedicht mit dem Titel „Gymnasium“ eine merkwürdige Bilanz: „Die Fahrräder, an denen die Schlösser rosteten. / Das Innerste dieser rostenden Fahrradschlösser: / Eine dieser Stellen, / die wir nicht gründlich genug / studiert haben.“
Freitag, 3. Juni, 20.15 Uhr, Kleines Haus Städtische Bühnen Münster; Karten Theaterkasse Telefon 02 51 / 41 46 71 00. Info: www.lyrikertreffen.muenster.de