Little Warsaw: Later on

08.07.2010

AZKM präsentiert Künstlerpaar András Gálik und Bálint Havas aus Budapest / Scene Ungarn in NRW / Bis 5. September

(SMS) András Gálik und Bálint Havas – das Künstlerpaar "Little Warsaw" – zählen zu den international bedeutendsten ungarischen Künstler ihrer Generation. Die städtische Ausstellungshalle zeitgenössische Kunst Münster (AZKM) präsentiert mit der Ausstellung "Later on" vom 10. Juli bis 5. September eine Auswahl ihrer Arbeiten aus den vergangenen zehn Jahren und konfrontiert sie mit neuen Werken. Die Ausstellung ist Teil des internationalen Kulturaustrauschprojektes "Scene Ungarn in NRW", das als eine von neun Veranstaltungsreihen im münsterschen "Kulturgebiet 2010" firmiert.


András Gálik (geb. 1970) und Bálint Havas (geb. 1971) – beide in Budapest geboren – haben ihre Kindheit im sozialistischen Ungarn der 1970er und 1980er Jahre verbracht. Ihre Zusammenarbeit begann in den späten 1990er Jahren, nach ihrem Kunststudium an der Budapester Kunstakademie. Als "Little Warsaw" gehören sie in Ungarn zu den bekanntesten Künstlern ihrer Generation. Die Veränderungen der politischen Referenzsysteme haben ihre politische wie künstlerische Wahrnehmung geprägt.


Ungarn hat in den vergangenen zwanzig Jahren einen grundlegenden Wandel erlebt. Es veränderte sich von einem Industrie-Agrarland unter planwirtschaftlichen Bedingungen in eine postindustrielle Marktwirtschaft, die sich der Innovation, Dienstleistung und modernen Agrarkultur verschreibt. Das Aufbrechen des diktatorischen Systems, mit seinen alten Befehlsstrukturen und administrativen Zwängen war begleitet von einer politischen Aufbruchsstimmung in eine lebendige, junge und authentische Demokratie, die sich nicht ohne Widerstände entwickelte und in dem die Kultur eine bedeutende Rolle spielte.


János Can Togay, Direktor des Collegium Hungaricum Berlin, brachte die politische Situation der vergangenen 20 Jahre in seiner Eröffnungsrede von Scene Ungarn in NRW (12.4.2010, Dortmund) so auf den Punkt: "Verschiedene Traumata der vergangenen hundert Jahre drängten auf einmal zur Oberfläche: Angefangen bei den großen Verlusten als katastrophale Folge des Ersten Weltkrieges und der Aufarbeitung der großen Eigenverantwortung in Folge des Zweiten Weltkrieges, über die Jahre der Unterdrückung durch Fremdherrschaft, die Wunden des mutigen 1956er Aufstandes, das politisch korrupte und verlogene Kádár-Regime bis hin zu der überaus widersprüchlichen Transformationszeit mit ihrer ständig schwelenden, manchmal fast bürgerkriegsähnlichen Gespaltenheit, die wir in den letzten 20 Jahren erlebt haben.“ Auf die Frage, wie sich diese Transformation in der Kunst widerspiegelt, antwortet er: "Die Aufgabe für die ungarischen Künstler nach der politischen Wende war es einerseits, sich ihrer eigenen Wurzeln frei zu besinnen und andererseits sich dem Gegenwartsgeschehen der europäischen / und der Weltkunst so innovativ und authentisch wie nur möglich anzuschließen." János Can Togay resümiert: "Wenn ich ein Thema ansprechen müsste, was alles dies aufgreifen kann, wäre das die Entdeckung und Aufdeckung des Persönlichen und die Sehnsucht nach der Tradition."


Die künstlerische Arbeit von András Gálik und Bálint Havas lässt sich nicht losgelöst von der politischen Situation ihres Landes verstehen, etwa wenn das Künstlerduo "Little Warsaw" ideologische Symbole und Referenzsysteme dekonstruiert und im Kontext der Kunst neu konstruiert. Stets auf die Gegenwart ihres eigenen Landes bezogen, beziehen sie sich immer auch auf das System Kunst, um diese manchmal ironisch und respektlos auf den Prüfstand zu stellen. Dabei finden sie immer neue Anknüpfungspunkte für einen internationalen, kulturpolitischen Dialog, der um die Themen "Identität", "Repräsentation" und "Institutionskritik" kreist.


INSTALLATIONEN | VIDEOS | DOKUMENTATIONEN


Marble Street


Das acht mal fünf Meter messende, flache Silikon-Kautschuk-Monument "Marble Street" thematisiert das Verhältnis von romantischer Sehnsucht nach Tradition und zeitgemäßer Repräsentation. Die Wandinstallation konfrontiert die klassische Kompositionsstruktur mit dem emphatisch isolierten Übergangsraum und verbindet Pathos mit Ironie. Als Kopie einer Fassade eines operettenhaften Architekturausschnitts reflektiert das Monument die übertriebene Vorliebe der ungarischen Kultur für Medienbilder und ironisiert sie gleichzeitig durch eine "respektlose" Gummi-Materialität. Dekontextualisierung und Rekontextualisierung geraten in eine unendliche Bedeutungsschleife, die zu Fragen nach der Haltbarkeit von Kultur in Zeiten des historischen Wandels anregt.


Qualities


Die zwölf lebensgroßen Gips-Plastiken "Qualities" versuchen eine Antwort auf die Frage zu geben, wie das Leben in einer hierarchischen Gemeinschaft mit dem Streben nach individueller Identität in Einklang zu bringen ist. In der seriellen Reihung werden die signifikanten Unterschiede der jungen Persönlichkeiten deutlich, die sich in den differierenden Haltungen und unterschiedlichen Gesichtsausdrücken zeigen. Die lebensgroßen Figuren spiegeln durch ihre spezifische Kleidung die Nostalgie und das Lebensgefühl der 1970er und 1980er Jahre wider. Die Rauminstallation spielt gleichermaßen mit der Aura des Monuments (für die unbekannten Helden) wie mit den zeitlosen Klischees von Gruppenfotos. Der Wunsch des Betrachters, die "Qualities" der Heranwachsenden zu ergründen, wird bei näherer Betrachtung zurückgewiesen, denn die Augen der "Individuen" sind geschlossen.


Monument of the last biennial


Das "Monument of the last biennial" hat für Little Warsaw eine besondere Bedeutung, denn kurz bevor die Auswahl der Biennale-Jury auf das Künstlerduo fiel, Ungarn in Venedig zu vertreten, haben sie es realisiert – unabhängig, doch zeitgleich zur Teilnahme an der Biennale in Venedig 2003. Die Skulptur – ein durchsichtig-abwesender Globus in Ketten – ist auf einem Grabsteinsockel befestigt. Obwohl das Objekt den Titel "Monument" trägt, kann es eher mit einem Zeitpunkt als einem spezifischen Ort – einem Raumpunkt – in Verbindung gebracht werden. Die Zeit-Referenz auf die vergangene (oder: letzte!?) Biennale ist dabei relativ, denn die Bedeutung des Titels lässt sich flexibel auf der Zeitleiste verschieben. Eine weitere Bedeutungsebene eröffnet die Anspielung auf die "Kunstwelt in Ketten". Auch diese Arbeit stellt mehr Fragen, als sie beantwortet und bezieht den Standpunkt des Betrachters in die Reflexion mit ein.


Video-Projektion: The Body of Nefertiti


Die Video-Projektion "The Body of Nefertiti" dokumentiert den Biennale-2003-Beitrag von Little Warsaw, mit dem das Künstlerduo über die Landesgrenzen hinaus bekannt geworden ist. Die 3000 Jahre alte Büste der altägyptischen Hauptgemahlin des Pharaos Echnaton, Nofretete, aus dem Ägyptischen Museum in Berlin wurde zum Ausgangspunkt einer temporären Performance. András Gálik und Bálint Havas formten zu der berühmten Büste einen "passenden" Leib und fügten unter strengsten Sicherungsbedingungen Torso und Oberkörper im Berliner Museum zu einer Skulptur zusammen. Das Video dokumentiert diesen bewegenden Augenblick der Animation, in dem der Inbegriff historischer Schönheit für einen Moment zu einem überzeitlichen, physischen Gegenüber wurde.


Auf der Biennale in Venedig wurde nur der Torso präsentiert. Der Körper ohne Kopf wurde zu einem Symbol für die Sehnsucht nach Ganzheit und Wiederbelebung – und damit zu einem fragilen Monument kulturübergreifender Menschheitsgeschichte. Little Warsaw gelang mit diesem Projekt für einen Augenblick die Verbindung von Geschichte und Gegenwart, der Transformation von Weltkunst in Gegenwartskunst.


Das Projekt warf in der Fachwelt zahlreiche Diskussionen auf: nach der Unantastbarkeit dieser Büste, den Urheberrechten und dem jungen ungarischen Künstlerduo, das bis dahin unbekannt war. Jacques Derrida betonte den Aspekt von Identität, Repräsentation und Verweischarakter zeitgenössischer Kunst: "No element can function as a sign without relating to another element which itself is simply not present. (Jedes Element ist ein Zeichen, das auf ein Abwesendes verweist.)"


Good Soil


Wirtschaftlich hat Ungarn in den vergangenen zwanzig Jahren einen weiten Weg zurückgelegt: Von einem sozialistischen Industrie-Agrarland unter planwirtschaftlichen Bedingungen zu einer europäisch-orientierten, postindustriellen Marktwirtschaft, die sich um Innovation bemüht, Dienstleistung großschreibt und eine moderne Agrarkultur entwickelt. Die vergoldete Ähre wird so zu einem fragilen Symbol für den neuen Aufbruch. Sie liegt auf dem Sockel, der gleichermaßen an einen Altar wie an ein kulturhistorisches Museum erinnert. Der Titel "Good Soil" verweist auf Saat- und Ernte-Vorgänge und damit auf Leben, Tod und Wiedergeburt. In der altchristlichen Tradition (Ijob 5,26) wird der sterbende Mensch mit einer Garbe verglichen; in der altägyptischen Kultur war aufwachsendes Korn Sinnbild des vom Tode auferstehenden Osiris. Als Frucht der Erde steht die Ähre in Verbindung mit dem Weiblich-Mütterlichen, mit der Beseeltheit der Natur und Fruchtbarkeitsritualen. In der christlichen Ikonografie wird Maria mitunter als Weizengarbe dargestellt; spätmittelalterliche Darstellungen zeigen Maria im Ährenkleid. Kornähren verweisen auf das "Brot des Lebens" und dienen als Verzierungen für Kelche, Monstranzen und Altarbücher; auf Grabsteinen sind sie ein Auferstehungssymbol. Bei Van Gogh werden sie zu vibrierenden Symbolen für die göttliche Beseeltheit der Schöpfung. - Good Soil, 2003, 61 cm, pure gold (999,9). Courtesy of the artist: Little Warsaw


Little Warsaw is Dead


Die ersten künstlerischen Experimente von András Gálik und Bálint Havas datieren in die Mitte der 1990er Jahre, der "Krise der post-kommunistischen Wende". Das Label "Little Warsaw" taucht erstmals 1996 als Titel einer Ausstellung im Polnischen Institut in Budapest auf. Bald wurde es zu einer Art Marke, die eine Laborsituation, Arbeits- und Reflexionsmethoden beschrieb, die sich auf das "große" Warschau als Vorbild bezog. Utopie und Ideologie, technische und theoretische Themen künstlerischer Visualisierung ebenso wie historische und kunsthistorische Fragestellungen wurden im Umkreis von Little Warsaw diskutiert: Little Warsaw wurde zu einem Reflexionsforum und Gegenentwurf zum bestehenden Budapest, einer künstlerischen Oppositionsbewegung mit utopischem Anspruch.


Die Leuchtschrift-Installation, die bereits 2004 als Entwurf entstanden ist, wurde 2008 realisiert und ist wiederum doppeldeutig. Ist das Künstlerduo nun in der Kunstwelt angekommen und fürchtet um seinen utopischen Anspruch? Wird aus dem "Little Warsaw" nun ein "Big Warsaw"? Oder wird der Künstlergruppe die eigene Marke zu "eng"? - Little Warsaw is Dead, 2008, installation, aluminium, bulbs, switches, wires, 50cm × 400cm, 50cm × 400cm. Courtesy of the artist: Little Warsaw


Projektion: Game of Changes


In den jüngeren Arbeiten beginnt das Künstlerduo Little Warsaw ideologische Symbole und Referenzsysteme zu dekonstruieren. Dafür stellen sie historische Dokumente auf den Prüfstand und analysieren ihre Wahrnehmung vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Veränderungen. In unterschiedlichen Projekten beschäftigen sie sich mit der kollektiven Bildsprache und ihrer Herkunft, mit sozialen Zusammenhängen und persönlichen Biografien. Dabei wird die historische Erinnerung als kontinuierlicher Prozess und immer währende Entwicklung des menschlichen Bewusstseins – mit ihren manchmal tragikomischen Konsequenzen – dargestellt und reflektiert. Die Suche nach einer authentischen Position in der Gegenwartskunst verbindet sich somit stets mit neuen Anknüpfungspunkten in der Vergangenheit; so dass sich Geschichte und Gegenwart in einem dynamischen Prozess gegenseitig erhellen.


In der Video-Installation "Game of Changes" stellt das Künstlerduo Fragen nach dem Wesen der Geschichte: Wie kann man historische Prozesse wahrnehmen, verifizieren, fixieren? Wie blickt man auf Veränderungen, die eigenen und die der anderen? Was passiert, wenn man die Frage, ob man von der Geschichte lernen könne, nach langer Zeit demselben Menschen noch einmal stellt? In ihrem Filmdokument "My dear Professor, the way he was when I was born – 1971" gelingt den beiden Künstlern dieser Zeitsprung. Sie befragen ihren Professor Zsigmond Karolyi – zweimal: 1971 und 2009. In der Verschränkung der Zeitebenen wird Veränderung individuell greifbar. Das Experiment wird zu einem philosophischen Essay über das Lernen, die Zeit und die Wahrnehmung von Entwicklung.


Referenzen: Biennale in Venedig, Ungarischer Pavillon (2003); 2. Berlin Biennale, Manifesta 2008 in Südtirol. Ausstellungen: Stedelijk Museum Amsterdam, Apex Art Gallery New York, Galerie für zeitgenössische Kunst Leipzig, Hamburger Kunstverein, Frankfurter Kunstverein, Kunsthalle Budapest, Museum Abteiberg in Mönchengladbach.


Die Ausstellung ist Teil des Kulturprogramms "Scene Ungarn in NRW" und von "Kulturgebiet Münster 2010". "Scene Ungarn in NRW" ist ein internationales Künstler- und Kunstaustauschprogramm des NRW KULTURsekretariats, das seit 1990 mit verschiedenen Kulturpartnern in NRW sowie wechselnden Partnerländern veranstaltet wird.


Das Programm 2010 wird unterstützt vom Freundeskreis der AZKM.


Ausstellungshalle zeitgenössische Kunst Münster
Hafenweg 28 – Speicher II – www.muenster.de/sadt/ausstellungshalle
Öffnungszeiten: Di - Fr: 14 - 19 Uhr, Sa / So: 12 - 18 Uhr


Fotos:


- Marble Street, 2000, Installation, Silikon-Kautschuk-Kopie einer Fassade, 5 m x 8 m. Courtesy of the artist: Little Warsaw. Foto: Veröffentlichung mit dieser Pressemitteilung honorarfrei.


- Qualities, 2001, 12 painted plaster, 12 lebensgroße Gips-Plastiken, Gesamtinstallation: 2 Meter x 15 Meter. Courtesy: MODEM Centre for Contemporary Art and Culture, Debrecen, Ungarn. Foto: Attila Gerencsér. Veröffentlichung mit dieser Pressemitteilung honorarfrei.


- Monument of the last biennial, 2002, Kalksandstein, Eisen, Kupferplatte, 221 cm x 125 cm x 125 cm. Courtesy: Spengler-Somlói private collection. Foto: Miklós Sulyok. Veröffentlichung mit dieser Pressemitteilung honorarfrei.


- The Body of Nefertiti, 2003, Video Dokumentation, 16mm Film, gedreht im Ägyptischen Museum, Berlin, 26. Mai 2003, Video Still. Courtesy: Horvath Art Foundation. Foto: Veröffentlichung mit dieser Pressemitteilung honorarfrei.


- Game of Changes, 2009, Video installation, DV, 06'30. Produziert von Transmediale, Berlin, Footfountage "Harmadik" (The Third) von Gábor Bódy, BBS 1971, Video Still. Courtesy of the artist: Little Warsaw. Foto: Veröffentlichung mit dieser Pressemitteilung honorarfrei.

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